Intelligent geht anders

Nevit Dilmen - Crystal Mind (Wikimedia Commons unter den Bedingungen der CC 3.0 BY-SA)
Ungefähre Lesezeit (inklusive Fußnoten): 5 Minuten

„‚Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst‘, behauptete bereits 1923 der US-amerikanische Psychologe Edwin Boring. Und ob sich Intelligenz überhaupt messen lässt – also die Verstandeskraft oder die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen – an dieser Frage scheiden sich die Geister schon seit mehr als 100 Jahren.“ [1]Cordula Sailer (2010): Was taugen IQ-Tests? Artikel verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/wissen/inelligenz-was-taugen-iq-tests-1.952376

Dass es die „Intelligenz als Maß geistiger Leistungsfähigkeit […] eigentlich gar nicht“ gibt und eine Messung von Intelligenz-Quotienten (IQ) irreführend ist, wie hier anhand einer Studie in der Süddeutschen Online dargestellt wird, das ist nun auch nicht wirklich neu. Denn die damit zusammenhängenden Phänomene wie Lernen, Denken, Gedächtnis oder Problemlösen sind als kognitive Leistungen sehr komplex. Entsprechendes gilt auch für die Abfrage bzw. Prüfung solcher Phänomene. Lerntechnisch sind die Leistung nicht nur mit verschiedenen Aktivitätsmustern im Gehirn verknüpft, sondern in meinen Augen an die Voraussetzung von Menschen als Personen gebunden. Intelligenz kann, mit anderen Worten, nicht auf grobe neuroanatomische Strukturen oder gar eine einzige Kennzahl wie den IQ zurückgeführt werden. Das zeigte schon sehr schön Stephen J. Gould in seinem Werk „Der falsch vermessene Mensch“. [2]Gould, S. J. (1983): Der falsch vermessene Mensch. Basel: Birkhäuser.

Nevit Dilmen - Crystal Mind (Wikimedia Commons unter den Bedingungen der CC 3.0 BY-SA)
Ist Intelligenz angeboren, also quasi ein „kristalliner“ Bestandteil des Gehirns? Ich meine, dass das in diesem Sinne nicht stimmt. Stephen Jay Gould spricht bei dieser Behauptung von einem biologischen Determinismus.
Bild (= Beitragsbild als Ausschnitt): Nevit Dilmen – Crystal Mind. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons (BY-SA) – Namensnennung und Verwendung unter gleichen Bedingungen.

Die Messung von Intelligenz …

Problematisch wird das Ganze in dem Moment, in dem die „Intelligenzmessungen“ – und die Zuordnung von Eignungsaussagen zu Menschen – politisch werden. Menschen mit einem hohen IQ gelten in solchen Zusammenhängen dann schon per se als besser (mindestens natürlich als intelligentere) als solche mit einem niedrigen IQ. „Was die Kraniometrie [3]Die frühe Schädelvermessungen bezüglich des Hirnvolumens. für das neunzehnte Jahrhundert war, ist der Intelligenztest für das zwanzigste geworden, wenn man davon ausgeht, daß Intelligenz (oder zumindest ein dominanter Teil davon) eine einzige, angeborene vererbliche und meßbare Sache ist“. [4]a.a.O., S. 20 Viele „Intelligenzforscher“ waren (als Personen mit politischem Einfluss) schließlich für Selektion und Eugenik, weshalb sich gerade in der Auseinandersetzung um den Intelligenzbegriff gut zeigen lässt, dass Weltanschauungen und Ideologien – nicht immer bewusst, aber äußerst wirksam – über die jeweiligen Protagonisten Eingang in vermeintlich objektive wissenschaftliche Verfahren finden. [5]hierzu auch sehr schön Gould 1983 Oder auch nur ganz banal in Einstellungstests und Prüfungen.

… ist biologischer Determinismus …

Stephen Jay Gould weist sehr nachdrücklich darauf hin, dass „die Behauptung, man könne den Wert von Einzelnen und von Gruppen durch Messung der Intelligenz als Einzelgröße bestimmen“ [6]a.a.O., S. 14 ein Erbe und die direkte Fortführung eines biologischen Determinismus ist. Die „biologistische Voreingenommenheit“ beginnt bereits sehr früh, nämlich mit der Annahme, dass Menschen auf einer linearen Skala nach ihrem geistigen Wert bzw. entsprechend ihrer Intelligenz einzuordnen sind. Zum Intelligenztest gehört nämlich unabdingbar die Grundannahme, dass Intelligenz vererbbar ist und eine Art persönliche, also natürliche (in diesem Sinne „kristalline“) Konstante darstellt. Insofern hebt sich die zitierte Studie dadurch wohltuend von den meisten Aussagen ab, als sie mindestens drei Faktoren [7]Das Kurzzeitgedächtnis, das logische Denken und verschiedene verbale Fähigkeiten aufzeigt, die „aus unterschiedlichen Bereichen des Gehirns“ stammen, und „die ihre Aufgaben unabhängig voneinander oder zusammen bearbeiten können“.  Und etwas über kulturelle, also erlernte Voraussetzungen sagen. [8]Adam Hampshire (2012) Neuron, Bd. 76, S. 1225, zitiert nach SZ-Online v. 20.12.2012 Letztlich bleibt jedoch auch hier wohl das Forschungsinteresse, so etwas wie drei IQ-Konstanten messen zu können. Die Tests bleiben artifiziell, während sich echte Intelligenz „im Alltag, im Verhalten und den getroffenen Entscheidungen“ zeigt. [9]So Gerd Giegerenzer in SZ-Online (a.a.O.). Weiter führt er aus: „Zum Beispiel haben viele mathematisch begabte Menschen wenig soziale Kompetenz und umgekehrt. Und manch professioneller … Continue reading

… aber wissenschaftlich attraktiv!

Es scheint eine enorme Attraktivität zu geben, die Intelligenz als Abstraktum mittels einer – oder auch mehrerer – Maßzahl(en) ermitteln zu wollen.  [10]hier schließe ich mich vollumfänglich Stephen J. Gould an. Wissenschaftstheoretisch stecken zwei Probleme hinter der vermeintlichen Intelligenzmessung: Die Neigung von Menschen, abstrakte … Continue reading Damit korreliert ist die unausrottbare Auffassung, über entsprechende Testverfahren [11]beispielsweise „Multiple-Choice“ Tests oder einfache Abfrage von Tatsachen – auch in der Schule und im Bereich der beruflichen Bildung – Intelligenz oder Wissen ermitteln zu können. Doch erfragt wird über solche Testverfahren lediglich das, was man über explizierbares Wissen kundgeben kann. Echte Kompetenzen können nur über die direkte Beobachtung  von Menschen, ihre Handlungen, beurteilt werden. [12]Oder, das durfte ich positiv erfahren, indem man beispielsweise argumentative Erklärungen oder die Darstellung von Zusammenhängen einfordert und sie entsprechend in die Testergebnisse einfließen … Continue reading In einem solchen Fall bleiben die Beobachtungen und Bewertungen notwendig subjektiv, was wohl kein Lehrender gerne von sich sagen würde. Wohl mit ein Grund dafür, dass die scheinbar objektiven Verfahren – und natülich die Klassifizierung von Menschen anhand ihrer Intelligenzquotienten – den Vorzug genießen.

Nachtrag vom 27.01.2019

„IQ is largely a pseudoscientific swindle […] The concept is poorly thought out mathematically […] and seemed to be promoted by racists/eugenists […] [and] psychometrics peddlers looking for suckers […] It is at the bottom an immoral measure that, while not working, can put people (and, worse, groups) in boxes for the rest of their live.“ [13]Nassim Nicholas Taleb auf Medium unter https://medium.com/incerto/iq-is-largely-a-pseudoscientific-swindle-f131c101ba39.

Warum schreibe ich eine Ergänzung bzw. einen Nachtrag so lange nach dem Erscheinen des Original-Blogbeitrags? Ganz einfach deshalb, weil sich das Thema zum einen ja nicht erledigt hat, sondern über die Diskussion zur künstlichen Intelligenz eine völlig neue Bedeutung gewonnen hat, und zum anderen, weil, wie das Zitat zeigen soll, es einen völlig neuen (wissenschaftlich fundierten) „Angriff“ auf das Konzept des IQ gibt. Schließlich habe ich auch diesen Blogbeitrag den neuen Gegebenheiten auf WordPress angepasst und gemäß meiner mittlerweile üblichen Vorgehensweise mit einem einführenden Zitat versehen. Doch der Reihe nach.

Intelligenz und künstliche Intelligenz

Wohl nirgends wird das Problem der nach wie vor ungeklärten Definition und überhaupt Erfassung des Themas Intelligenz so deutlich, wie in der Debatte um die künstliche Intelligenz. Ich habe das Thema deshalb an anderer Stelle aufgegriffen und verweise hier nur auf den Blogbeitrag, den ich gemeinsam mit meinem Kollegen Siegfried Lautenbacher bei Beck et al. dazu verfasst habe. Zu finden ist er hier unter dem Titel „Der Test von Intelligenz„.

Der IQ als pseudowissenschaftlicher Schwindel

Mit großem Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass Nassim Nicholas Taleb einen wissenschaftstheoretischen Fundamentalangriff auf das ganze Konzept initiiert hat.

„Der IYI-Vorwurf [Intellectuals Yet Idiots] zielte ins Herz von akademischen Intelligenz-Intellektuellen. Namentlich erwähnte Taleb Steven Pinker, dem er Unwissen über die statistischen Begriffe Varianz und Korrelation unterstellte, sowie «Quacksalber» Charles Murray, einen streitbaren Verfechter einer Gausskurvenverteilung von Intelligenz, mit der er Ethnien und Rassen vergleicht.“ [14]Marc Neumann (2019): Ist der Intelligenzquotient ein pseudowissenschaftlicher Schwindel? Nassim Taleb geht auf Konfrontation mit Steven Pinker und anderen Helden des Dark Web. Artikel verfügbar … Continue reading

Ganz besonders interessant daran finde ich, dass hier die sozialen Medien, speziell Twitter, dazu beigetragen haben, diesen Konflikt neu sichtbar zu machen. Bzw., dass Nassim Nicholas Taleb diesen Weg gewählt hat und damit vorbei an den wissenschaftlichen Fachmagazinen einen völlig neue Form eines „wissenschaftlichen Diskurses“ entwickelt hat.

„Abgesehen von einem Punktsieg erreichte Taleb mit seinen Ausfällen auf Twitter etwas Aussergewöhnliches: Indem er die IQ-Diskussion nicht in gängige Stellvertreter-Streitigkeiten über akademische Political Correctness, Rede- und Meinungsfreiheit verpackte, sprach Taleb einen komplexen Gegenstand direkt und sachlich an. Das Resultat war ein so derbes wie packendes und lehrreiches Social-Media-Seminar.“ [15]Marc Neumann, a.a.O.

Inhaltlich neu – gegenüber der klassischen und bis heute gültigen Kritik von Stephen Jay Gould, den ich ursprünglich zitiert habe – ist die Methodenkritik auf der mathematischen Ebene, also nicht beispielsweise dem zu Grunde gelegten biologischen Determinismus, sondern die Mathematik als Grundlage selbst. In den Worten von Nassim Nicholas Taleb: „But the ‚intelligence‘ in IQ is determined by academic psychologists (no geniuses) […] via statistical constructs s.a. correlation […] that they patently don’t understand.“ [16]a.a.O.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Cordula Sailer (2010): Was taugen IQ-Tests? Artikel verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/wissen/inelligenz-was-taugen-iq-tests-1.952376
2 Gould, S. J. (1983): Der falsch vermessene Mensch. Basel: Birkhäuser.
3 Die frühe Schädelvermessungen bezüglich des Hirnvolumens.
4 a.a.O., S. 20
5 hierzu auch sehr schön Gould 1983
6 a.a.O., S. 14
7 Das Kurzzeitgedächtnis, das logische Denken und verschiedene verbale Fähigkeiten
8 Adam Hampshire (2012) Neuron, Bd. 76, S. 1225, zitiert nach SZ-Online v. 20.12.2012
9 So Gerd Giegerenzer in SZ-Online (a.a.O.). Weiter führt er aus: „Zum Beispiel haben viele mathematisch begabte Menschen wenig soziale Kompetenz und umgekehrt. Und manch professioneller Risikoforscher kann sein Wissen nicht anwenden, wenn ihm ein Arzt eine Untersuchung auf eine seltene Krankheit vorschlägt“
10 hier schließe ich mich vollumfänglich Stephen J. Gould an. Wissenschaftstheoretisch stecken zwei Probleme hinter der vermeintlichen Intelligenzmessung:

  • Die Neigung von Menschen, abstrakte Begriffe in Wesenheiten zu verwandeln, sie also zu Verdinglichen (Die deutsche Sprache lädt hierzu nachgerade ein) und
  • die Neigung, Rangordnungen aufzustellen um komplexe Variationen auf einer Skala eindnen zu können.

11 beispielsweise „Multiple-Choice“ Tests oder einfache Abfrage von Tatsachen
12 Oder, das durfte ich positiv erfahren, indem man beispielsweise argumentative Erklärungen oder die Darstellung von Zusammenhängen einfordert und sie entsprechend in die Testergebnisse einfließen lässt.
13 Nassim Nicholas Taleb auf Medium unter https://medium.com/incerto/iq-is-largely-a-pseudoscientific-swindle-f131c101ba39.
14 Marc Neumann (2019): Ist der Intelligenzquotient ein pseudowissenschaftlicher Schwindel? Nassim Taleb geht auf Konfrontation mit Steven Pinker und anderen Helden des Dark Web. Artikel verfügbar unter https://www.nzz.ch/feuilleton/ist-der-intelligenzquotient-ein-pseudowissenschaftlicher-schwindel-nassim-taleb-geht-auf-konfrontation-mit-steven-pinker-und-anderen-helden-des-dark-web-ld.1450747. Über diesen Artikel bin ich darauf aufmerksam geworden.
15 Marc Neumann, a.a.O.
16 a.a.O.