Die neuen Lerner*innen? – 1 (MOOCs 4)

Ungefähre Lesezeit (inklusive oft umfangreicher Anmerkungen in Form von Fußnoten): 12 Minuten

„Wenn dem selbstbestimmten Arbeiten und Lernen etwas grundsätzlich entgegensteht, ist das am Ende nicht die fehlende geistige Offenheit und Neugierde der Einzelmenschen, sondern die untergründige DNA der Organisation selbst […] Wenn solipsistische Tüftler, knallharte Wettbewerbstypen oder angepasste Bürokraten in hohem Ansehen stehen, passt das nicht recht zu einer Kultur des selbstbestimmten, kooperativen Lernens.“ [1]Martin Lindner in der Viessmann Session am Donnerstag. 

Es ist wieder die Zeit der Mythenbildungen. Das ist keineswegs nur im Sinne eines (ungerechtfertigten) Geltungsanspruches gemeint, denn Mythen spielen als begründende Erzählungen sowohl beim Wissen (in Form des Erzählens von Geschichten), als auch im Rahmen der Gesellschaft (Begründung von Riten) und selbst für Unternehmen (beispielsweise als Gründungsmythos) eine wichtige Rolle. Mythenbildung findet immer dann statt, wenn Neues mit hoher Symbolkraft entsteht, aber die genauen Bedingungen, Wirkprinzipien oder auch Zusammenhänge noch nicht wirklich fassbar sind. In diesem Sinn bezeichnet der Begriff Mythos „auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher symbolischer Bedeutung.“ [2]Wikipedia: Mythos Im Bereich der digitalen Transformation von Unternehmen gibt es diese Mythen schon länger. Einer davon ist die ständig wiederholte Aussage, der Kern der digitalen Revolution würde in den Technologien stecken. [3]Für den Bereich der Arbeit habe ich das in den „5 Mythen digitaler Arbeit“ für die Zeitschrift Computer und Arbeit beschrieben. Für den Bereich der digitalen Transformation von Bildung gewinnt gerade der Mythos von den neuen Lerner*innen Kontur. [4]Dem steht im Moment der Mythos digitaler Kompetenzen, insbesondere für Führungskräfte, oder eines „digitalen Mindsets“ in nichts nach. Den Mythos digitaler Kompetenzen habe ich genauer … Continue reading Diese sollen nämlich in Zukunft eigenständig sowie „möglichst vernetzt und selbstorganisiert ihre Kompetenzentwicklung“ gestalten. Insofern waren auch die Fragen in der fünften Themenwoche des Corporate Learning MOOCs, den die Firma Viessmann ausrichtete, auf diesen Mythos hin ausgerichtet. Sie lauteten (beispielsweise):

Entsprechende Fragen, wie etwa „Was sind denn neue Lernende?“ und „Eignet sich ein MOOC überhaupt zum Lernen?“, entstanden, sozusagen als Gegenstück, auch bei uns im Rahmen unserer Lerngruppe #AufgeMOOCt. In zwei Teilen will ich diesen Fragen nachspüren, wobei dieser erste Teil sich dem Thema der neuen Lerner*innen widmet, während der zweite Teil den konkreten Überlegungen in Bezug auf das digitale Setting des MOOCs, das sich im Anschluss daran (möglicherweise) ergibt, gewidmet ist.

„Im allgemeinsten Sinn kann ein Mythos nach dieser Vorstellung ein Begriff, ein Erklärungsmuster oder ein Produkt mit großer öffentlicher Ausstrahlung sein.“ [5]Wikipedia: Mythos Im Bereich des digitalen Lernens haben einige Begriffe eine ziemlich große Ausstrahlungskraft, wie etwa der Begriff Selbstorganisation. Je nach Definition und Anwendung kann genau hieraus ein Mythos bezüglich des Lernens als Prozess entstehen. „Anders als verwandte Erzählformen wie Sage, Legende, Fabel oder Märchen gilt ein Mythos (sofern dieser Begriff nicht in seiner umgekehrten Bedeutung als ideologische Falle oder Lügengeschichte verwendet wird) als eine Erzählung, die Identität, übergreifende Erklärungen [und] Lebenssinn […] als eine weitgehend kohärente Art der Welterfahrung vermittelt.“ [6]a.a.O.
Bild (auch Beitragsbild): Comfreak – narrative-794978_1920 auf Pixabay. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons 0, also als gemeinfreie Datei.

#AufgeMOOCt 2

Dieser Blogbeitrag ist ein weiteres Ergebnis der Lerngruppe #AufgeMOOCt von Studierenden an der Hochschule München und mir, sozusagen Teil 2. [7]Teil 1 findet sich hier, Teil 3 hier. Diese Kennzeichnung ist nicht ganz korrekt, weil die Studierenden selbst ebenfalls Blogbeiträge dazu verfasst haben. Diese sind allerdings im Moment noch … Continue reading Wir hatten aufgrund unserer zeitlichen Ressourcen von vornherein geplant, uns als Gruppe an zwei verschiedenen Wochen (und damit zwei verschiedenen Unternehmen/Schwerpunkten) zu beteiligen. Insofern ist dies eine Reflexion auf unsere zweite aktive Session, was den Schwerpunkt dieses Beitrags erklären soll. [8]Damit soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass es im MOOC insgesamt noch viele andere spannende Aspekte und Diskussionen gab. Aus Zeitgründen schaffen wir es als Gruppe eben nicht, auf alle … Continue reading Als Lerngruppe gehörten wir wohl insgesamt nicht zu den neuen Lernenden, denn unisono wurde beklagt, dass der MOOC zu unübersichtlich sei, viel zu viele „fancy“ klingende, aber unklare Begriffe enthalte und zum Teil erhebliche technische Barrieren vorhanden gewesen seien. Mit der anfangs hohen Motivation der Studierenden ging es jedenfalls sehr schnell bergab. Die Fragen des Teams bei Viessmann aufgreifend und weiter entwickelnd gab es auch im Reflexionsprotokoll sehr bald daran anschließende Fragen, wie etwa: „Ist das [selbstständige Lernen] neu?“ „[Ist] alles wirklich so neu ist, wie alle immer tun?“ Eine weitere Anmerkung aus dem Protokoll ist die, dass die ganzen Diskussionen und Aspekte, Theorien, etc. nicht erst durch die Digitalisierung entstanden seien.

Ich finde es vor diesem Hintergrund besonders spannend, die Lernerfahrungen der Studierenden, die sie durchaus deutlich im Rahmen ihrer persönlichen Ziele und Reflexionen auf den MOOC zum Ausdruck gebracht haben, einzubeziehen und im Rahmen dieses Beitrags zu überlegen, was eigentlich die klassische Pädagogik bzw. die Psychologie sowie Lehr- und Lernforschung dazu zu sagen haben. [9]Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit. Es geht mir wirklich nur darum ein paar gesicherte Erkenntnisse zum Thema Lernen in die Diskussion einzubringen. … Continue reading Denn aufgefallen ist es mir ein paar Mal, dass manche Diskussionen in den Themenwochen nicht nur unter unklaren Begriffen zustande kamen, sondern auch ziemlich theoriefrei waren. Das muss nicht zwingend schlecht sein, weil hier normalerweise die persönlichen (Lern-) Erfahrungen ins Spiel gebracht werden. Auf der anderen Seite gibt es zum Thema Lernen und Lerner*innen qualitativ und quantitativ gute Studienergebnisse sowie verschiedene erziehungswissenschaftliche Theorien und pädagogische Modelle (auch und gerade für Erwachsene), die nur dann irrelevant wären, wenn der Mythos der neuen Lerner*innen tatsächlich wahr werden würde. [10]Als Kompendium möchte ich hier nur auf das Handbuch Erwachsenenbildung/ Weiterbildung von Rudolf Tippelt & Aiga von Hippel (Hrsg.) verweisen. Wie so oft hat auch die Mythenbildung viel damit zu tun, dass Begriffe nicht geklärt werden [11]Zu den begrifflichen Schwierigkeiten und dem Sprachspiel dieses MOOCs generell habe ich bereits im ersten Blogbeitrag recht ausführlich geschrieben. oder auch in verschiedenen Kontexten mit Bedeutungen aufgeladen werden, denen sie nicht gerecht werden können. Das kann man am Beispiel des Begriffs „Selbstorganisiert“ im Bereich des digitalen Lernens, der alles andere als neu ist, aber eher als „Wohlfühlfloskel und emotional aufgeladenes Zeichen für eine Art Befreiungsakt“ [12]Gabi Reinmann (2009): Selbstorganisation auf dem Prüfstand: Das Web 2.0 und seine Grenzen(losigkeit), S. 8 verwendet wird, eigentlich besonders schön zeigen.

Selbstbestimmt statt Selbstorganisiert

„Die Selbstorganisation gehört denn auch zu den zentralen Losungsworten […] Emotional positive Konnotationen und unbestimmte Heilsversprechungen hängen dieser Vokabel an […] genau hier liegt das Problem: Als bloße Worthülse […] streut ein unreflektierter Gebrauch der Begriffe Selbstorganisation und ’selbstorganisiertes Lernen‘ falsche Erwartungen und Empfehlungen.“ [13]Gabi Reinmann, a.a.O., S. 2.

Speziell für die Viessmann Woche könnte ich nun nicht sagen, dass es nicht begleitendes Material im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu gegeben hätte. So war beispielsweise für die Diskussion am Donnerstag zum Thema „Selbstorganisation, oder: Wie managen wir das selbständige Lernen?“ ein Aufsatz von Gabi Reinmann dazu hinterlegt, von dem obiges Zitat stammt. [14]a.a.O.; Ich halte von den Überlegungen und auch Ausführungen von Gabi Reinmann ziemlich viel. Besonders schön ist natürlich, dass ihre Überlegungen – wie beispielsweise dieser Aufsatz … Continue reading Bereits 2009 – also weit vor dem MOOC-Hype – geschrieben, setzt er sich mit dem Begriff der Selbstorganisation am damaligen Hype des sogenannten Web 2.0, sowie mit der Frage der Grenzen(losigkeit) offener Lernarrangements, auseinander. Gerne greife ich im weiteren Fortgang die Erkenntnisse dieses Aufsatzes auf. Dabei versuche ich, in Teil 2, die Überlegungen positiv auf den MOOC anzuwenden. Meine eigene Essenz daraus ist, dass Selbstorganisation, oder eigentlich viel eher Selbstbestimmung, im Rahmen der Gestaltung von organisationalen Lernprozessen zwei komplementäre Seiten hat: die Seite der personalen Voraussetzungen und die Seite der prozessualen / strukturellen Voraussetzungen, wie sie beispielsweise in digitalen Settings berücksichtigt werden (müssen).

Konnektivismus und …

Von Selbstorganisation reden ziemlich viele (wissenschaftliche) Disziplinen, meinen damit aber äußerst Unterschiedliches. Das betrifft nicht nur die verschiedenen Ebenen, wie etwa zelluläre Strukturen oder auch komplette Lebewesen bzw. ganze Systeme, sondern, speziell bei der Betrachtung der Entstehung von Strukturen und Ordnung, auch die Phänomenebene, was also genau damit beschrieben wird oder ausgesagt werden soll. [15]Noch einmal genauer nachzulesen eben bei Gabi Reinmann, s.o. Dem konnektivistischen Selbstorganisationsparadigma, dem der Corporate Learning MOOC 2017 folgt, liegt lerntheoretisch der Konstruktivismus zu Grunde. Das ist insofern problematisch, als bereits der Konstruktivismus selbst sehr schnell missverstanden oder besser: missinterpretiert werden kann. Im Regelfall wird beim lerntheoretischen Konstruktivismus angenommen, dass der Lernerfolg bzw. Wissenserwerb eine ausschließliche Leistung des Individuums ist. Richtig daran ist, dass Lernen als bewusster bzw. intentionaler Handlungsvollzug einen subjektiven Akt der Bereitschaft und des Wollens (Motivation) einer Aufnahme von Informationen sowie ein Ziel, auf das hin gelernt wird, voraussetzt. [16]Gabi Reinmann nennt dies Selbstregulation. A.a.O., S. 4. Richtig daran ist auch, dass der Aufbau des Wissens bzw. von Kompetenzen individuell unterschiedliche Facetten aufweist, weil es mit dem Vorwissen verknüpft wird. Falsch wird der Konstruktivismus dann, wenn er [17]Gemeint sind natürlich die Vertreter*innen dieser Richtung, die sich derzeit stark im Bereich der Neurowissenschaften tummeln. (mehr oder weniger) explizit davon ausgeht, dass es keine objektive Außenwelt oder intersubjektive Wahrheit gibt, weil eben alles Lernen eine subjektive Konstruktionsleistung darstellt. [18]Einen argumentativen bzw. wissenschaftstheoretischen Nachweis dazu, dass der radikale Konstruktivismus falsch ist, wäre relativ leicht zu erbringen. Siehe dazu ausführlicher Hans-Dieter Mutschler … Continue reading

… Konstruktivismus

Eine adäquate bzw. gemäßigte konstruktivistische Einstellung geht davon aus, dass es beim Lernen nicht um eine (individuelle) Konstruktion im Sinne einer „Erfindung“ oder von etwas (nur) „Gemachtem“ geht, sondern immer um die Re-Konstruktion gemeinsamer Bedeutung, [19]Wie sehr die Bedeutung eine soziale Konstituente ist, hat besonders Ludwig Wittgenstein an der Untersuchung der Sprache herausgearbeitet. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der … Continue reading sozialer lebensweltlicher Realitäten und/oder kollektiver wissenschaftlicher Information. Insbesondere letzteres hat viel mit der Deutung und Bedeutung der Interpretation von Daten zu tun. Insgesamt spielt sich jedes individuelle Lernen in Unternehmen und Organisationen vor diesem Hintergrund ab. Lernen ist deshalb „nicht nur eine selbstregulierte Handlung, sondern [immer] auch ein Prozess, der von äußeren Faktoren bedingt und damit unterschiedlich fremd- und selbstgesteuert ist.“ [20]Gabi Reinmann, a.a.O. Es ist also außerordentlich witzlos, die ein selbstbestimmtes Lernen ermöglichenden Strukturen und Prozesse außer Acht zu lassen, indem beispielsweise alles in das lernen wollende Subjekt verlagert wird. So wie umgekehrt ein*e neue*r Lerner*in erst durch Berücksichtigung der sozialen Bedingtheit des eigenen Lernens selbstbestimmt lernen kann. Selbstbestimmt „in dem Sinne, dass es der Person gelingt, äußere Anforderungen und Gegebenheiten (äußere Strukturierung) mit inneren Zielen und Normen (innere Strukturierung) in Einklang bzw. in eine Passung zu bringen.“ [21]a.a.O. In der klassischen Pädagogik wird diesem Umstand mit der Betrachtung der jeweiligen Settings (bzw. einer Situierung), als Ermöglichung eines adäquaten Lernprozesses, Rechnung getragen. Ein solches Setting stellen sowohl der MOOC, als auch die unterschiedlichen Ausgestaltungen der betrieblichen Aus- und Fortbildungsprozesse der beteiligten Unternehmen, selbst wenn sie auf den informellen Bereich des Lernens abzielen, dar. [22]Gerade dieser Bereich war, als erfahrungsbasiertes Lernen gekennzeichnet, Thema der vierten Themenwoche des MOOCs, der von der Firma DNV GL Oil & Gas gestaltet wurde.

Lernen & Setting

„Diese Erkenntnis aber darf nicht dazu verleiten anzunehmen, jeder Mensch könne in jeder Situation das Optimum an Selbstorganisation erreichen […] Ebenso vermessen wäre es anzunehmen, dass Selbstbestimmung im hier verwendeten Sinne eine einfach zu erreichende Anforderung beim Lernen darstellt.“ [23]Gabi Reinmann, a.a.O., S. 6.

Der Begriff Setting (engl. für „Anordnung“ oder „Schauplatz“), der eine Gesamtheit von Merkmalen bezeichnet, in deren Rahmen etwas stattfindet oder erlebt wird, kommt ursprünglich aus der Entwicklungspsychologie. Er hat aber auch in der Pädagogik, für die Gestaltung von Therapiesituationen und im Bereich der sozialen Arbeit eine enorme Bedeutung gewonnen. Psychologisch beispielsweise besteht die Entwicklung (und damit das Lernen) von Menschen „in der Eroberung neuer Umweltausschnitte und im Durchwandern von Settings“ [24]Oerter & Montada (1987): Entwicklungspsychologie, S. 94; Ein Wechsel zwischen den Settings führt normalerweise zu unterschiedlichen Verhaltensmustern und Handlungen, je nach Art des Settings. Das Setting eines Kurses, Seminars oder sonstwie gestalteten Lernprozesses zu berücksichtigen bedeutet zuallererst, einen (virtuellen) Raum zu schaffen, in dem Interaktionen in einer bestimmten und vor allem gewünschten Art und Weise stattfinden können. Weitere zentrale Faktoren eines Settings sind die zeitliche Gestaltung, die Möglichkeiten der Aktivitäten der unterschiedlichen Teilnehmer*innen sowie die Rollenverteilung. [25]Ein klassisches pädagogisches Setting ist beispielsweise der Frontalunterricht, der sowohl den Raum in seiner Gestaltung (Klassenzimmer oder Vorlesungssaal mit Reihenbestuhlung), die Zeit (eine … Continue reading

Ein Setting zu schaffen bedeutet in keinem Fall, willkürlich bestimmen zu können, welche Lernbedingungen und Prozesse jemand als Organisator*in gerne hätte. Es bedeutet vielmehr, die externen Rahmenbedingungen und Strukturen zugrunde zu legen und sich dabei zu überlegen, wie sie im Sinne des intendierten Lernprozesses (Lernziele) und den Voraussetzungen der verschiedenen Lerner*innen sinnvoll genutzt werden können. In eine ähnliche Richtung weist die Theorie des situierten Lernens, die vornehmlich eine Theorie von Lernumgebungen im Rahmen der betrieblichen Aus- und Fortbildung darstellt. Lernumgebungen, „die dem Konzept des situierten Lernens folgen, begünstigen selbstgesteuerte und kooperative Lernformen.“ [26]Jochen Gerstenmaier & Heinz Mandl (2009): Konstruktivistische Ansätze in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung, S. 173 (S. 8); In: Tippelt & von Hippel, Handbuch … Continue reading In diesem Sinne stellt die Gestaltung des gesamten MOOCs, ob gewollt oder nicht, ein solches situiertes Konzept dar. Die Besonderheit dürfte sich daraus ergeben, dass sich mit dem Einsatz digitaler Anwendungen und Plattformen neue Möglichkeiten herstellen lassen, die unterschiedlichen Faktoren eines Settings beispielsweise partizipativ (im Sinne der Selbstbestimmung der Lerner*innen) zu gestalten.

Oben: Das Video der Einführungssession der Firma Viessmann in die zu gestaltende Woche des MOOCs.

Am konkreten Beispiel: Der Ablauf der montäglichen einführenden Sitzungen war in etwa bei allen teilnehmenden Firmen gleich. In seiner Gestaltung stellt es einen Teil des Settings dar, welches der MOOC strukturell zum Lernen zur Verfügung stellt. Dem Begriff und der Idee eines MOOCs folgend sind einige Grundbedingungen des Settings als „Pflöcke“ gesetzt, beispielsweise die Offenheit sowie der Online-Zugang. Im Begriff selbst steckt aber immer noch – bzw. auch noch – der Kurscharakter (Course), was auf ein spezielles Setting hindeutet. [27]Ich persönlich habe das Gefühl, dass gerade im Rahmen der Organisator*innen der Kurscharakter nicht angenommen wird, oder zumindest ungute Gefühle hervorruft, weil allzu oft ganz bestimmte … Continue reading Gesondert festgelegt werden muss diesbezüglich beispielsweise die Zuweisung der Rolle der Teilnehmer*innen und die Ausgestaltungsmöglichkeit ihrer Lernbedingungen. Einige kritische Anmerkungen aus dem Reflexionsprotokoll der Studierenden der Lerngruppe #AufgeMOOCt dazu, wie das gelungen ist:

  • Enttäuscht von den Sitzungen, da irgendwie nicht wirklich eine Interaktion stattfindet.
  • Langwierige Eingangssitzung (Werbung für das Unternehmen).
  • Sitzungen sind zu lange dafür, dass man sich nicht einbringen kann.
  • Kommunikation unterscheidet sich NICHT von realen Räumen (Vorträge werden jetzt eben per Skype präsentiert und nicht per Beamer).
  • In unserem System ist dieses ‚mansollselbstlernen‘ schwierig –> Leistungsgesellschaft.
  • Und eben: Eignet sich ein Mooc überhaupt zum Lernen?

Neben der prozessualen bzw. strukturellen Voraussetzung spielen für das Setting natürlich die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer*innen in jedem Kurs eine wichtige Rolle. Das konnten wir für den MOOC mindestens im Rahmen unserer Lerngruppe feststellen. Generell gilt wohl: Der „mäßige Erfolg offen konzipierter Bildungsangebote (die der Web 2.0-Philosophie entsprechen) lässt sich […] darauf zurückführen, dass Lernende in der Regel mit sehr unterschiedlichen personalen Ausgangsbedingungen teilnehmen.“ [28]Gabi Reinmann, S. 6. Vielleicht ist es, neben der Heterogenität und Unterschiedlichkeit, aber auch so, dass von den digitalen Lern*innern die „falschen“ Eigenschaften vorausgesetzt bzw. erwartet werden. Und das nicht nur, weil organisationintern „Kontrollen, interne Regeln und Geheimhaltungsvereinbarungen […] schnell mit der Idee offener Netzprojekte und mündiger Partizipation“ kollidieren. [29]Gabi Reinmann, a.a.O., S. 7

Digitale Lerner*innen

„Die ‚Netzgeneration‘ kann einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Sie erweist sich bei genauerer Betrachtung als unzulässige, stark überzeichnete Generalisierung der Eigenschaften einzelner Subgruppen heutiger Kinder und Jugendlicher […] Dass Mediennutzung immer soziales Handeln ist, das von verschiedenen soziokulturellen Faktoren beeinflusst wird und in einem komplexen Zusammenspiel von Subjekt und Technologien entsteht, wird ignoriert […] Dieser Determinismus steht im krassen Widerspruch zur Komplexität menschlichen Handelns allgemein und der Medienaneignung im Speziellen.[30]Arnold, P. & Weber, U. (2013): Die „Netzgeneration“. Empirische Untersuchungen zur Mediennutzung bei Jugendlichen. In: Ebner, M. & Schön, S. (Hrsg.): L3T. Lehrbuch für Lernen … Continue reading

Seinen Ursprung hat der Mythos der neuen Lerner*innen in meinen Augen in den  technikdeterministisch angelegte Auseinandersetzungen um die sogenannten „Digital Natives“. [31]Technikdeterministisch ist eine Zuweisung von digitalen Eigenschaften dann, wenn sie davon ausgeht, dass sich allein aufgrund der Technologie (zwangsläufig) bestimmte personale Eigenschaften ergeben. Es ist quasi eine Spätfolge dieser Diskussion, die jetzt in den Personalentwicklungsabteilungen oder auch bei HR bzw. bei L&D (Learning & Development), und demzufolge auch im Corporate Learning MOOC 2017, aufschlägt. Was wurde da nicht alles geglaubt. [32]Zur empirischen Dekonstruktion siehe neben Arnold & Weber (oben) auch Schulmeister (2010) – Deconstructing the Media Use of the Net Generation. In: Qwerty Interdisciplinary Journal of … Continue reading Die grundlegende Aussagen dieser Auseinandersetzungen waren ja vor allem die, dass Jugendliche, die mit digitalen Technologien groß werden, quasi automatisch, so die implizite oder meist sogar ausdrückliche Unterstellung bei der Prägung der Begriffe, sowohl wissen, wie man mit diesen Technologien umgeht, als es auch als selbstverständlich ansehen, sie im Alltag und beim Lernen zu verwenden. Weiter wurde argumentiert, dass dies schließlich sogar – als persönliches Merkmal – zu einem anderen Denken und deutlichen Unterschieden darin, Informationen zu verarbeiten, oder Aufmerksamkeitsleistung zu erbringen (positiv oder negativ), führt. Und eben, so die Erweiterung hin zu neuen Lerner*innen, sowohl eine völlige Selbstorganisation, als auch eine absolute sowie grenzenlose (räumliche und zeitliche) Eigenständigkeit beim Lernen ermöglicht, getragen vom (individuellen) Wunsch nach dieser Form des Lernens, weil es, gegenüber den formalen Zwängen, eine persönliche Freiheit beim Lernen verspricht.

Mindestens für den Gebrauch der digitalen Medien im Organisationskontext kann man mittlerweile gut zeigen, dass dies nicht an die individuelle Sozialisation gebunden ist. Die konkrete Ausgestaltung der Prozesse entscheidet über deren Verwendung, so dass digitale Medien erst über das gemeinsame Zusammenarbeiten (Kollaboration) und Lernen (Social Learning) fruchtbar gemacht werden können. [33]D.h. mit anderen Worten, dass eine Vernetzung alleine, wie sie beispielsweise der Konnektivismus für das Lernen zugrundelegt, noch nicht wirklich dazu führt, sinnvolle Lernprozesse organisieren zu … Continue reading Gerade deshalb ist die Betrachtung des komplementären Verhältnisses von Selbstbestimmung zu den unterschiedlichen Settings in Unternehmen äußerst fruchtbar. „Organisationsmitglieder sollen nicht mehr nur in formalen Weiterbildungsszenarien lernen, sondern auch die natürlichen Lernressourcen in der Arbeitsumgebung nutzen, in der Freizeit lernen und/oder ihre Beschäftigungsfähigkeit selbst in die Hand nehmen.“ [34]Gabi Reinmann, a.a.O., S. 7 Hintergrund dieser Überlegungen ist ja nicht selten, die Fremdsteuerung durch die Organisation, die natürlich auch Ressourcen erfordert und zumindest normalerweise im Einsatz von entsprechenden Lehrpersonen mündet, überflüssig zu machen. Mit anderen Worten: dieses Geld einzusparen und die gesamte Last der betrieblichen Aus- und Fortbildung „freiwillig“ den Beschäftigten zu übertragen. [35]Ein Aspekt, der aus Sicht der Lerngruppe vor allem in der Themenwoche 1, der Fragen und Diskussionen im Zusammenhang mit der Firma Merck, zum Tragen kam. Siehe hierzu den ersten Teil dieser Blogreihe. „So etwas wie ein freier Wille dürfte […] [dann aber] keine Rolle spielen.“ [36]a.a.O. Mit anderen Worten: Die untergründige Kultur der Organisation mit ihren strukturellen Vorgaben und prozessualen Abläufen bestimmt entscheidend darüber, wie gut selbstbestimmtes Lernen möglich wird, wie es Martin Lindner so schön im Eingangszitat formuliert hat. Allerdings erst dann, so meine Ergänzung, wenn sich der Fokus hierbei auf das Lernen als Prozess verschiebt, nicht bei den Lerner*innen im Sinne personale Eigenschaften stehen bleibt.

„Selbstorganisation benötigt Handlungs- und Entscheidungsspielräume, in denen Selbststeuerung möglich ist und Selbstbestimmung toleriert wird.“ [37]Gabi Reinmann, a.a.O., S. 8 Meiner Meinung nach steckt deshalb tatsächlich ein Problem darin, dass als Ergebnis dieser Diskussion nachgerade mythische personale Eigenschaften konstruiert werden, die künftige Lerner*innen auszeichnen sollen. [38]Geht man im Nachhinein all den Beiträgen der Viessmann-Woche nach, dann springt es geradezu ins Auge, wie sehr Eigenschaften wie etwa Neugier und Selbstorganisation sofort und unmittelbar auf die … Continue reading Es ist als Ergebnis der Suche nach den (neuen) Bedingungen und Konsequenzen digitalen Lernens strukturanalog vergleichbar mit der derzeitigen Diskussion in den Unternehmen um ein „Digital Leadership“. Die Diskussion bleibt so lange unfruchtbar, als nicht eine Trennung zwischen Führung als Prozess und Führung als personale Eigenschaft (der neuen Leader) vollzogen wird, weil es sich hierbei ebenfalls um einen komplementären Bezug handelt. Führung als Prozess wird immer notwendig sein. Eine Zuweisung nachgerade mythischer Eigenschaften an speziell dafür ausgebildete Personen ist allerdings nicht zwangsläufig die Folge, weil Führung auch anders, beispielsweise kollegial, organisiert werden kann. [39]Hierzu habe ich mir gemeinsam mit Siegfried Lautenbacher in unserem Corporate Blog Gedanken gemacht. Vgl. auch weiter die daran anschließenden Ausführungen von Siegfried Lautenbacher hier.

Strukturanalog müsste also die Frage lauten: Wie sehen die neuen (digitalen/situativen) Settings aus, die ein selbstbestimmtes Lernen ermöglichen? Letztlich ist die Organisation des MOOCs ja genau diesem Umstand, nämlich der Feststellung, dass die klassischen Lernsettings der betrieblichen Aus- und Fortbildung immer weniger funktionieren, geschuldet. Das ist nun eine Frage, die ich in einem gesonderten Blogbeitrag (hier) näher untersuchen will.

 

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Martin Lindner in der Viessmann Session am Donnerstag.
2 Wikipedia: Mythos
3 Für den Bereich der Arbeit habe ich das in den „5 Mythen digitaler Arbeit“ für die Zeitschrift Computer und Arbeit beschrieben.
4 Dem steht im Moment der Mythos digitaler Kompetenzen, insbesondere für Führungskräfte, oder eines „digitalen Mindsets“ in nichts nach. Den Mythos digitaler Kompetenzen habe ich genauer in meinem Artikel „Der Stuhlkreis wird digital. Von der Bedeutung digitaler Lernmethoden für die Personalentwicklungsabteilungen“ untersucht.
5 Wikipedia: Mythos
6 a.a.O.
7 Teil 1 findet sich hier, Teil 3 hier. Diese Kennzeichnung ist nicht ganz korrekt, weil die Studierenden selbst ebenfalls Blogbeiträge dazu verfasst haben. Diese sind allerdings im Moment noch weitgehend intern auf Moodle publiziert und nur der Student Mike Voigt hat bisher seine Überlegungen dazu über unsere eigens dafür angelegte Blogseite kundgetan.
8 Damit soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass es im MOOC insgesamt noch viele andere spannende Aspekte und Diskussionen gab. Aus Zeitgründen schaffen wir es als Gruppe eben nicht, auf alle gleichberechtigt im Sinne einer Reflexion einzugehen.
9 Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit. Es geht mir wirklich nur darum ein paar gesicherte Erkenntnisse zum Thema Lernen in die Diskussion einzubringen. Verweisen möchte ich dabei beispielsweise auf das schon lange frei zugängliche E-Book „Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien„.
10 Als Kompendium möchte ich hier nur auf das Handbuch Erwachsenenbildung/ Weiterbildung von Rudolf Tippelt & Aiga von Hippel (Hrsg.) verweisen.
11 Zu den begrifflichen Schwierigkeiten und dem Sprachspiel dieses MOOCs generell habe ich bereits im ersten Blogbeitrag recht ausführlich geschrieben.
12 Gabi Reinmann (2009): Selbstorganisation auf dem Prüfstand: Das Web 2.0 und seine Grenzen(losigkeit), S. 8
13 Gabi Reinmann, a.a.O., S. 2.
14 a.a.O.; Ich halte von den Überlegungen und auch Ausführungen von Gabi Reinmann ziemlich viel. Besonders schön ist natürlich, dass ihre Überlegungen – wie beispielsweise dieser Aufsatz – meist öffentlich, d.h. im Internet, zur Verfügung stehen und damit nachvollziehbar sind.
15 Noch einmal genauer nachzulesen eben bei Gabi Reinmann, s.o.
16 Gabi Reinmann nennt dies Selbstregulation. A.a.O., S. 4.
17 Gemeint sind natürlich die Vertreter*innen dieser Richtung, die sich derzeit stark im Bereich der Neurowissenschaften tummeln.
18 Einen argumentativen bzw. wissenschaftstheoretischen Nachweis dazu, dass der radikale Konstruktivismus falsch ist, wäre relativ leicht zu erbringen. Siehe dazu ausführlicher Hans-Dieter Mutschler (1997): Die Welt als Konstruktion.
19 Wie sehr die Bedeutung eine soziale Konstituente ist, hat besonders Ludwig Wittgenstein an der Untersuchung der Sprache herausgearbeitet. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ In: Philosophische Untersuchungen, 43.
20 Gabi Reinmann, a.a.O.
21 a.a.O.
22 Gerade dieser Bereich war, als erfahrungsbasiertes Lernen gekennzeichnet, Thema der vierten Themenwoche des MOOCs, der von der Firma DNV GL Oil & Gas gestaltet wurde.
23 Gabi Reinmann, a.a.O., S. 6.
24 Oerter & Montada (1987): Entwicklungspsychologie, S. 94; Ein Wechsel zwischen den Settings führt normalerweise zu unterschiedlichen Verhaltensmustern und Handlungen, je nach Art des Settings.
25 Ein klassisches pädagogisches Setting ist beispielsweise der Frontalunterricht, der sowohl den Raum in seiner Gestaltung (Klassenzimmer oder Vorlesungssaal mit Reihenbestuhlung), die Zeit (eine Schulstunde = 45 Minuten), die Rollenverteilung (Vortragender bzw. Lehrerin) sowie die Eigenaktivität (Unterrichten + Zuhören) bestimmt.
26 Jochen Gerstenmaier & Heinz Mandl (2009): Konstruktivistische Ansätze in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung, S. 173 (S. 8); In: Tippelt & von Hippel, Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung, S. 169 – 178. Verfügbar unter: https://epub.ub.uni-muenchen.de/217/1/217.pdf
27 Ich persönlich habe das Gefühl, dass gerade im Rahmen der Organisator*innen der Kurscharakter nicht angenommen wird, oder zumindest ungute Gefühle hervorruft, weil allzu oft ganz bestimmte (schulische, frontale) Lernsettings damit verbunden sind.damit aber wird die strukturelle Gestaltungsaufgabe vernachlässigt.
28 Gabi Reinmann, S. 6.
29 Gabi Reinmann, a.a.O., S. 7
30 Arnold, P. & Weber, U. (2013): Die „Netzgeneration“. Empirische Untersuchungen zur Mediennutzung bei Jugendlichen. In: Ebner, M. & Schön, S. (Hrsg.): L3T. Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien.
31 Technikdeterministisch ist eine Zuweisung von digitalen Eigenschaften dann, wenn sie davon ausgeht, dass sich allein aufgrund der Technologie (zwangsläufig) bestimmte personale Eigenschaften ergeben.
32 Zur empirischen Dekonstruktion siehe neben Arnold & Weber (oben) auch Schulmeister (2010) – Deconstructing the Media Use of the Net Generation. In: Qwerty Interdisciplinary Journal of Technology, Culture and Education Vol 5, No 2.
33 D.h. mit anderen Worten, dass eine Vernetzung alleine, wie sie beispielsweise der Konnektivismus für das Lernen zugrundelegt, noch nicht wirklich dazu führt, sinnvolle Lernprozesse organisieren zu können.
34 Gabi Reinmann, a.a.O., S. 7
35 Ein Aspekt, der aus Sicht der Lerngruppe vor allem in der Themenwoche 1, der Fragen und Diskussionen im Zusammenhang mit der Firma Merck, zum Tragen kam. Siehe hierzu den ersten Teil dieser Blogreihe.
36 a.a.O.
37 Gabi Reinmann, a.a.O., S. 8
38 Geht man im Nachhinein all den Beiträgen der Viessmann-Woche nach, dann springt es geradezu ins Auge, wie sehr Eigenschaften wie etwa Neugier und Selbstorganisation sofort und unmittelbar auf die beteiligten Personen (als potentielle Fortbildungsbeteiligte) übertragen werden. Das gilt auch für die skeptischen Einstellungen dazu, inwiefern dies beschäftigte auszeichnet.
39 Hierzu habe ich mir gemeinsam mit Siegfried Lautenbacher in unserem Corporate Blog Gedanken gemacht. Vgl. auch weiter die daran anschließenden Ausführungen von Siegfried Lautenbacher hier.